Warum Geschichte?

In George Orwells Roman „1984“ heißt es u.a.: „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft. Wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.“ Gemeint ist damit vor allem die Praxis der Partei, jederzeit nachträglich Ereignisse in den Archiven an die momentanen Erfordernisse anzupassen, sprich zu fälschen, um spätere Kontrollen und Vergleiche unmöglich zu machen. Der Mensch wird im wahrsten Sinn des Wortes entwurzelt, man kappt jede Verbindung zum Gestern. Da auch die eigene Wahrnehmung  und Erinnerung nicht immer sattelfest und im Laufe der Zeit flüchtiger werden, zweifelt der Mensch an seiner erlebten Realität und an sich selbst. Keinem ist es in der Zukunft mehr möglich, die Partei einer Lüge zu überführen, weil das Gewesene der gerade gewünschten Situation angepasst wird. Die Zukunft wird somit beherrscht von der Vergangenheit.

In einer Zeit, in der das Individuum, das „Ich“, und weniger das „Wir“, die Gemeinschaft, in den Fokus gerückt wird, taucht immer häufiger die Frage auf, warum man sich mit der Vergangenheit befassen solle, man lebe doch schließlich im Hier und Jetzt. Warum sollte man sich den Ballast der Jahrhunderte oder Jahrtausende aufbürden, der doch niemand wirklich von Nutzen sei. Was vergangen ist, ist vorbei, endgültig. Punkt! Vorbei?
Wer an dieser Schule arbeitet, seien es Schüler, Erzieher, das Personal oder die Lehrer, „atmet“ den Geist eines Pater Rupert Mayer, der sich dem Lauf der Geschichte, den verbrecherischen Machenschaften eines Unrechtsregimes, der Nationalsozialisten, mit Wort und Tat in den Weg stellte, ohne Rücksicht auf seine Person. Dieses Vermächtnis gilt es weniger zu verwalten, als vielmehr seinen Geist hinauszutragen in eine Welt, die wieder mehr denn je gefährdet scheint, in den Sog von braunem Gedankengut zu geraten. Übertreibung?
Die Coronakrise gebiert Verschwörungstheorien, die einem überzeugten Demokraten die Haare zu Berge stehen lassen – und je abstruser, je abwegiger sie sind, desto mehr Glauben schenkt man ihnen. Nur zur Erinnerung: Im Jahr 1348, zur Zeit der Pest, machte man Juden für die Seuche verantwortlich, indem man sie der Brunnenvergiftung bezichtigte.
Die Spanische Grippe ließ in der jüdischen Presse (C.V. – Zeitung, 3/1919) Befürchtungen laut werden: „Was ein richtiger Antisemit und ein deutschnationaler Volksparteiler ist, der glaubt, dass die Juden und vor allem die böse Alliance israelite universelle an allem Unglück in Deutschland und der Welt schuld sind, an Pest und Grippe…“
Und in der heutigen Zeit, die uns mehr Informationen an die Hand gibt, mehr Wissen zur Verfügung stellt und Zugang zu einer Vielfalt an konträren wissenschaftlichen Studien und Ansichten gewährt wie nie zuvor, bewahrt uns nicht vor abstrusen Verschwörungstheorien, die ihren Höhepunkt – oder sollte man besser sagen: geistigen Tiefpunkt in der QAnon – Bewegung finden: Kinder würden von den Eliten entführt, zur Zwangsprostitution und Kinderkämpfen gezwungen und das Blut der Kinder würde getrunken werden. Das Mittelalter lässt grüßen. Wenn diese Anhänger auf die Straße gehen, gehen nicht wenige von ihnen eine Symbiose ein mit der neuen Rechten, deren Gedankengut so alt ist, dass es eigentlich längst verrottet sein müsste.
Und deshalb, aber nicht nur, brauchen wir, d. h. vornehmlich unsere Schülerinnen und Schüler das Fach Geschichte, um zu begreifen, dass nichts, ohne Folgen zu hinterlassen, endgültig „abgehakt“ werden kann. Wir müssen unsere „Kinder“ stark und immun machen gegen alle Fährnisse, die einem selbstbestimmten, glücklichen Leben in einer intakten menschlichen Gemeinschaft drohen. Und dazu gehört nun einmal ein geschichtliches (Ge) wissen, nicht von exakten Jahreszahlen, sondern von Zusammenhängen, um das Erlernen von Kompetenzen (Lehrplan Plus) zu ermöglichen, damit wir sagen können: Nie wieder!

U. Gock, Fachbetreuer Geschichte